„Provoziere nicht die Gesellschaft! Das kannst du dir nicht leisten“

Das kurze Leben der Rosemarie Nitribitt

Der Film „Das Mädchen Rosemarie“ - Politik und Doppelmoral

Die Dreharbeiten beginnen bereits im April 1958, gerade mal ein halbes Jahr nach Nitribitts Tod. "Ich wurde gewarnt, den Part zu übernehmen", sagt Nadja Tiller SPIEGEL ONLINE. "Ein Verleger aus Österreich und jemand aus der Chefetage des Springer-Verlages riefen mich an und sagten 'Bist du verrückt? Du wirst dich damit ruinieren.'" Zu einer Zeit, da Romy Schneider im Kino die keusche, Rehe herzende "Kaiserin Sissy" gab, sprach Nadja Tiller Drehbuch-Sätze wie "Ich habe 18.000 Mark bekommen - für ein Mal."

Polizeibericht
https://www.cinema.de/film/das-maedchen-rosemarie,90834.html

Der Dreh in Frankfurt wird ein Kesseltreiben. Die "Mercedes"-Niederlassung an der Kaiserstraße, bei der die Nitribitt Kundin war, verbittet sich, in einem Film über die Prostituierte gezeigt zu werden: "Wir haben dort heimlich gedreht, im Morgengrauen, die Kamera stand in einem Bus mit schwarzen Vorhängen", erzählt Nadja Tiller. "Alle sprangen im Quarree, waren total hysterisch."

In vorauseilender Furcht vor einem lasterhaften Dirnendrama kündigten darüber hinaus viele tausend Kinobesitzer in Nordrhein-Westfalen und Bayern schon vor Beginn der Dreharbeiten einen Boykott des Films an. (...)

Der hinkende Vergleich mit Brechts Dreigroschenoper wurde zwar vielfach bemüht, Thiele [der Regisseur des Films] selbst sorgte jedoch schon im Vorfeld für Klarheit: „Die Dreigroschenoper war das Knurren eines hungrigen Magens. Unser Film wird ein Rülpser der Sattheit.“ Seine wohl vollkommenste Form findet jenes saturierte Aufstoßen in dem Lied „Wir ham’ den Kanal noch lange nicht voll“, das Rosemaries nunmehr ehemalige Zuhälter anstimmen, während sie Fernseher, Radiokoffer und Mixer in ihre neue Wohnung hochtragen. Es ist auch jenes satirisch-entlarvende Spiel mit den Insignien des Wirtschaftswunders, das diesen Film auszeichnet. Zu einem hochbrisanten Politikum wurde die Szene jedoch erst, als Wochenschau-Aufnahmen von vorbeimarschierenden Bundeswehrsoldaten hineinmontiert wurden. Gepaart mit dem Liedtext und der sicherlich nicht zufälligen Melodie des Königgrätzer Marsches ergab sich eine Mischung, die zur Zeit kontroverser Debatten um eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr den Sittenwächtern des deutschen Films eindeutig zu weit ging.

Filmausschnitt aus: „Das Mädchen Rosemarie“, https://www.youtube.com/watch?v=KFd70vtu2d8

Da jene Collage eine „Herabwürdigung der verfassungsmäßigen und rechtsstaatlichen Grundlagen“ bewirke, verlangte die FSK ihre Entfernung. Ersetzt wurden die Dokumentaraufnahmen durch „anonym“ vorbeimarschierende Statisten in Uniform – der beabsichtigten Wirkung dürfte jene Änderung keinen Abbruch getan haben.

Zwar wurde der Film unter einer weiteren Änderungsauflage von der FSK letztlich ab 18 Jahren freigegeben, doch drei der acht Ausschussmitglieder, darunter ein Vertreter der Kirche und einer des Bundes, beantragten gar – letztlich vergebens – eine völlige Verweigerung der Freigabe aufgrund der entsittlichenden Wirkung und einer zu befürchtenden Schädigung des Ansehens Deutschlands im Ausland. Schließlich werde ein ausschließlich negatives Bild der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung entworfen und es bestehe die Gefahr einer Verallgemeinerung der gezeigten Missstände auf das ganze deutsche Volk.

Fast identisch argumentierte das Auswärtige Amt mit Heinrich von Brentano an der Spitze, der im August 1958 die deutsche Botschaft in Italien dazu aufforderte, gegen die Vorführung des „Mädchens Rosemarie“ auf der Biennale Protest einzulegen. Der entsprechende Einspruch des dortigen Kulturattachés erwies sich gleich in zweifacher Hinsicht als Bumerang. Einerseits reagierte man in Italien irritiert bis verärgert auf einen solchen staatlichen Interventionsversuch, andererseits steigerte das wenig humorvolle deutsche Vorgehen die Neugier auf den Film im In- und Ausland um ein Vielfaches. Die Reaktionen des Premieren-Publikums in Venedig waren euphorisch, deutsche Kinos erlebten einen noch größeren Ansturm als im Falle der „Sünderin“ und ein Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film krönte jenen Siegeszug.


https://filmgeschichten.blogspot.com/2008/02/provoziere-nicht-die-gesellschaft.html
Auch: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41759138.html

Gewalt und Widerstand – Heimerziehung und Fluchten

Rosalia Annemarie Auguste Nitribitt wurde am 1. Februar 1933 in Ratingen bei Düsseldorf als uneheliches Kind geboren. Ihren Vater lernte sie nie kennen. Sie und ihre Schwester Irmgard kamen 1936 “wegen drohender Verwahrlosung” in das Kinderheim St. Josef in Eschweiler und im September 1938 in das Erziehungsheim Düsseldorf-Herdt. Rosemarie wurde im Mai 1939 in einer Pflegefamilie in Niedermendig (Kreis Mayen-Koblenz) untergebracht und erlebt dort zunächst eine unbeschwerte Kindheit..

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